Menschen lieben Geschichten. Es ist die Art, wie wir miteinander kommunizieren und unbewußt voneinander lernen. Im aktuellen Augenblick tun wir einfach das, was wir tun. In der Rückschau jedoch werden aus unserem Handeln zwei Dinge: entweder eine Information oder eine Geschichte.

Die Information

Informationen sind wichtig und helfen uns beim sozialen Zusammenleben. Wir erzählen unserem Partner am Abend: „Ich war heute einkaufen.“ Diese schlichte Information wird ihn interessieren, wenn er uns beispielsweise am Morgen darum gebeten hat, Brot mitzubringen. Oder weil er wissen möchte, warum wir heute nicht dazugekommen sind, den Rasen zu mähen.

Die Geschichte

Ganz anders verhält es sich mit einer Geschichte. Mit einer Geschichte treten wir emotional in Kontakt und lernen voneinander. Die Geschichte vom Einkaufen ist vielleicht die: „Heute war ich einkaufen und habe mein Portemonnaie verloren. Und stell dir vor: Ein kleiner rothaariger Junge hat es gefunden. Er ist mir nachgelaufen und hat es mir gebracht.“

Eine solche Geschichte enthält in Minimalform die Dramaturgie, die jede Geschichte trägt und immer funktioniert. Zunächst gibt es eine Ausgangslage, dann folgt ein Hindernis oder ein Ereignis mit unbekanntem Ausgang, und am Schluss steht ein Ergebnis, das anders ist als der Anfang.

Warum ist diese Geschichte hörenswert und warum hört jeder normal strukturierte Zuhörer bis zum Ende zu? Ganz einfach: Der Zuhörende will wissen, ob ein schlechtes Ereignis zum Guten gewendet werden konnte und wie das Hindernis überwunden werden konnte.

Warum halten wir diese Geschichte für erzählenswert? Dahinter steckt auch nur ein Grund: Weil sie beim Erzähler etwas verändert hat. Der Erzähler war unvermittelt sehr in Sorge – das Geld war verloren – aber es kommt anders als er nun erwartet. Eine überraschende positive Wendung tritt ein. Mit dieser Geschichte möchte der Erzähler unbewusst die Erfahrung teilen, die er damit verbindet.

Wenn wir noch etwas genauer hinsehen, erzählen wir eigentlich etwas über unsere Gefühle. Wir sagen: Heute hat mich etwas berührt und verändert. Und der Zuhörer kann es – wenn er es in Form einer Geschichte hört – miterleben. Und er könnte auf die gleiche Art verändert sein, obwohl er dasselbe nicht erlebt hat. Er fühlt potentiell die gleichen Gefühle, wenn er Erlebtes als Geschichte hört. Wir tun das unbewusst, weil wir soziale Wesen sind und Gefühle und Erfahrungen teilen.

Der Info-Film

Viele Filme liefern nur Informationen. Das ist gut so, wenn der Zuschauer ohnehin etwas mit dem Thema verbindet. Er will möglicherweise wissen, wie etwas funkioniert. Dann schaut er ein Tutorial auf Youtube. Oder er will wissen, wie die Börse steht, welches Auto besser ist, oder wie man Eintopf kocht. Dann schaut er Nachrichten oder eine Kochsendung. Wenn sich der Zuschauer jedoch auf etwas einläßt, dass ihn nicht unmittelbar interessiert, weil er nichts damit verbindet, und wenn der Film gleichzeitig die Haltung des Zuschauers potentiell verändern will, braucht es eine Geschichte,

Was ist eine Geschichte?

Geschichten sind erzählte Gefühle,. Wenn ein Mann sagt: „Hey, ich bin heute 280 gebrettert!“, dann erzählt er eigentlich: „Ich war heute mutig, ich habe mir eine ordentliche Dosis Adrenalin verpasst und das hat sich gut angefühlt.“ Das Ende lässt er weg, weil es die Zuhörin ja selbst sieht. Der „Held“ ist noch da und also hat er das Hindernis und die Widerstände überlebt. Diese eliptische Mini-Geschichte, die er so kurz erzählt, lautet eigentlich so: „Ich war heute mit dem Auto unterwegs. Auf den Strassen gibt es Gefahren und Regeln und die machen es ziemlich gefährlich, sehr schnell zu fahren. Aber ich habe es trotzdem getan. Ich habe mich toll dabei gefühlt. Und es ist gut gegangen.“ Auf diese Art erzählt, könnte jeder Zuhörer mitfühlen. Einfühlsame Partnerinnen tun das auch, wenn es nur die oben genannte und weitaus üblichere Kurzversion zu hören gibt. Aber egal wie es erzählt wird, es ist eine Geschichte und ihr Kern sind Gefühle.

Geschichten lassen uns bis zum Ende bleiben

Diese Gefühlsgrundlage hat jede Geschichte, auch die harten, die so scheinbar gar nichts mit „Gefühlen“ zu tun haben. Kein Actionfilm wird Zusehende bei Interesse halten, wenn nicht eines herausspringt: die Gefahr und die Angst, die wir mit dem Helden spüren, wenn er gegen Widerstände kämpft und die Zufriedenheit, die er uns erleben lässt, wenn er allem Bösen zum Trotz die Welt retten kann. Besonders Männer haben offenbar ein Bedürfnis nach solchen Stellvertretern in lebensbedrohlichen Geschichten. Frauen lösen in Geschichten stellvertretend eher Beziehungsprobleme. Bei Normenproblemen im Krimi liegen Frauen und Männer gleich auf.

Weil Zuhörende sich unbewußt mit dem Held oder der Heldin in der Geschichte identifizieren, können sie über ihre bzw. seine Erfolgstrategie genauso viel lernen, als hätten sie selbst gekämpft. Diese Identifiaktion ist ein Urinstinkt, dem wir folgen, weil er uns besser überleben hilft. Wir müssen dem Bär nicht selbst gegenübertreten, um ihn als Gefahr zu erkennen, sondern es genügt, die Geschichte über ihn zu hören. Wir können lernen, welche Fähigkeiten wir haben müssen, um ihm zu entkommen, ohne jemals selbst einem Bären begegnet zu sein.

Nun ist ein Film nichts anderes als eine Erzählung, nur mit anderen Mitteln. Nicht mehr erwartert der Zuschauer davon: Eine Handlung, die Scheitern beinhaltet, eine Heldin oder einen Held der das stellvertretend durchsteht und einen Ausgang, der anders ist als der Anfang – am besten mit einer Wendung zum Guten.

Das heißt: Menschen werden nicht bleiben und zuhören und ggf. lernen, wenn Geschichten nicht Geschichten sind.